Samstag, September 16, 2006

Warum dieser scheinbar "ungünstige" Platz für das Himmelfahrtsbild?


(Zeichnung: hintere Umschlagklappe im Schweizerischen Kunstführer 733/34, 2003)

Warum wurde das Himmelfahrtsbild an einer so ungünstig scheinenden Stelle und erst noch im Querformat platziert?
Die Antwort ist einfach: weil sie vom Gesamtprogramm aus gedacht hier ihren Platz finden musste. Die Darstellung ist zugleich Erzählung und dogmatische Metapher. Der Bericht von der Himmelfahrt Jesu enthält ja die Zusage von der Geistsendung(Apg 1,8), weist also auf das Pfingstereignis hin und deutet so den Anfang der Institution Kirche an. Und von der Kirche in Rom, in der Ostalpenregion, und endlich auf der ganzen Erde, handeln die Bilder in den drei Apsiden.
Die Stirnwand und die drei Apsisdekorationen ergaben zusammen einst ein Triptychon (ein dreiteiliges Altarbild) als der frühmittelalterliche Raum noch mit einem Blick zu erfassen war. Man muss sich nämlich heute die später zugefügten gotischen Einbauten wegdenken: die runden Stützen, die Wandpfeiler zwischen den Apsisöffnungen und die Gewölbe. Dann wirkt die Stirnwand oben wie eine zusammenfassende Klammer und das Himmelfahrtsbild erstreckt sich als einleitende Aussage über alle drei Apsisprogramme darunter. Denn: bevor Jesus den Blicken der Jünger entschwand um zurückzukehren in die dreifaltige Gottheit, sandte er sie in die Welt hinaus; und so ging denn Petrus nach Rom, um würdige Männer als Bischöfe in die Städte Italiens und Galliens zu senden.- So etwa lautet der Anfang der "Bischofsgeschichte von Metz", die Paulus Diaconus 784 am Hof Karls des Grossen nach dem Vorbild des päpstlichen Liber Pontificalis verfasste. Dieser Text, sowie weitere Schriften des langobardischen Gelehrten und Dichters halfen mir, die Darstellungen im Zusammenhang zu sehen und zu deuten. Im minutiös geplanten Bildprogramm des Dreiapsiden-Saals von Müstair sind ja alle Szenen innerlich verbunden und wagrecht, senkrecht und quer durch den Raum gedanklich aufeinander bezogen.
Das Himmelfahrtsbild an der östlichen Stirnwand erfüllt dabei eine besondere Aufgabe, gehört es doch sowohl zum grossen Jesusleben an den Seitenwänden, als auch zum Davidszyklus im obersten Register, und ganz besonders eng zu den Bildern in den Apsiden im eigentlichen Altarbezirk.

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