Dienstag, September 12, 2006

Bilder anstatt Bücher?

Für wen wurden eigentlich die vielen Bilder in den Klosterkirchen geschaffen?
Gewiss nicht für diejenigen die nicht lesen können, wie immer wieder behauptet wird! Auch nicht für diejenigen, die sich sonst während der Predigt langweilen würden. Und überhaupt nicht für das einfache Volk, sondern für die Bewohner oder Bewohnerinnen des jeweiligen Klosters. In Müstair z.B. war die Kirche sogar ursprünglich fast nur dem Konvent vorbehalten, denn sie war einzig von den Klostergebäuden her zugänglich und hatte kein Westportal. Benediktiner-Mönche konnten gewöhnlich lateinisch und z.T. sogar griechisch lesen und schreiben und verfügten über eine gewisses Mass von theologischer Bildung. Mit den liturgischen Texten und den biblischen Büchern waren sie vertraut und auch mit deren gängiger Auslegung durch die Kirchenväter. Zumindest kannten sie sich in den Psalmen, die sie täglich singend beteten, sehr genau aus, steht doch in der Regel des hl.Benedikt, dass die Klostergemeinschaft wöchentlich den ganzen Psalter zu rezitieren habe. Was Wunder wenn sie viele Stellen auswendig kannten! Dort kommt David sehr oft vor, und gelegentlich auch Saul oder Absalom. Dort finden sich auch die Querverbindungen zwischen AT und NT, weil seit der christlichen Frühzeit das Evangelium als Erfüllung der alten Prophezeihungen verstanden wurde und David, der Psalmendichter, als der Prophet schlechthin galt.

Es gab natürlich auch andere Kirchenbauten, für die spezielle Bildprogramme entworfen wurden. Zum Beispiel Palastkapellen. Oder Bischofskirchen in den Städten. Da galten wieder andere Voraussetzungen für den Schmuck. In Friedhofskirchen oder in Gotteshäusern in ländlichen Gebieten waren dann die Bilder, so es welche gab, eher erzählender Art, etwa als fortlaufende Friese mit allgemein bekannten biblischen Szenen ohne gelehrte Querverbindungen gestaltet. In Müstair aber ermöglichte die Anordnung von Einzelbildern in einem gleichmässigen Rastersystem gedankliche Querverbindungen zwischen verschiedenen Bild-Inhalten und zugehörigen Textstellen. Das war für die Mönche einfacher als für uns heutige saekularisierte Christen. Wir müssen die Bibel und das römische Messbuch zur Hand haben und über ein Minimum von theologischem Wissen verfügen um solche Bilder zu verstehen. Unterziehen wir uns dieser Mühe, so lassen sich fragmentarische Szenen deuten und verlorene eventuell sinngemäss ergänzen. Es ist jedenfalls faszinierend den diversen Darstellungen nachzuspüren und langsam den Zusammenhängen auf die Spur zu kommen

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