Sonntag, Oktober 29, 2006

Begegnung am Stadttor von Jericho

Die Erinnerung an einen Tag in Jericho anlässlich einer Jordanienreise veranlasst mich, nach einem längeren Unterbruch die Tagebucheintragungen zu meinen Müstairer Studien heute wieder auf zu nehmen. Denn heute, am 29. Oktober, wurde im Gottesdienst gemäss der liturgischen Ordnung die Perikope von einem blinden Bettler in Jericho gelesen, der den Nazarener, der eben die Stadt in Richtung Jerusalem verlassen wollte, durch lautes Schreien auf sich aufmerksam machte (Markus 10, 46-52)


Bild Nr 45 an der Nordwand: Jesus und die Blinden von Jericho. Abbildung aus Gnädinger/Moosbrugger, Zürich 1994, S.70

Als erstes fällt auf, dass hier zwei gestikulierende blinde Bettler am Stadttor sitzen! Es ist also nicht die eben erwähnte Markusperikope dargestellt, sondern eine Parallelstelle bei Matthäus (Mat.20,29-34). Was hat wohl den Schöpfer des Bildprogramms veranlasst, diese Version der Erzählung zu wählen? Vergleichen wir die beiden Textstellen, so wird ersichtlich, dass bei Markus ein Individuum im Zentrum steht, das seine ganze Hoffnung auf Jesus setzt, bei Matthäus aber geht es eher allgemein um den messianischen Auftrag des Davidssprosses das Licht der Welt zu sein und den Menschen die Augen zu öffnen. Darum ist im Bild von Müstair nicht der Moment der Blindenheilung dargestellt, sondern Jesus erscheint, machtvoll ausschreitend, von der lichten Öffnung des Stadttors gerahmt, zwischen dem staunenden Volk und den beiden Blinden, die "Erbarme dich unser,Sohn Davids" schreien (das Bildfeld ist links aussen durch einen gotischen Wandpfeiler beschnitten). Und dass mit Jesus die messianische Zeit angebrochen ist, wo "Stumme reden, Verkrüppelte gesund werden, Lahme gehen und Blinde sehen" (Matth.15, 29-31)zeigt sogleich das nächste Bild Nr.46, wo mit der Heilung des Taubstummen wieder das obligate Bildpaar nebeneinander gestellt ist.
Vom Gedankenreim oder Parallelismus, einer rhetorischen Form, die sich oft im hebräischen Sprachstil und dort vor allem in den Psalmen findet, war schon beim Versuch den Davidszyklus zu rekonstruieren die Rede. Das Wissen darum hilft auch beim Benennen der nur fragmentarisch erhaltenen neutestamentlichen Szenen im Bilderzyklus von Müstair, von denen in den nächsten Wochen die Rede sein wird. Zunächst habe ich aber, ausserhalb der mit Nr.29 einsetzenden Reihe links oben an der Nordwand, mit einem vorzüglich erhaltenen Bilderpaar begonnen, das sich im Bereich der Klausur auf der Nonnenempore befindet und darum den Besuchern der Klosterkirche nicht zugänglich ist: Nr. 45 und 46 an der Nordwand: Jesus öffnet den Blinden die Augen und dem Tauben die Ohren und den Mund.