Montag, September 18, 2006

Naturns, St.Prokulus oder St.Luzius?

Bevor ich mich den Apsisprogrammen der karolingischen Klosterkirche von Müstair zuwende, will ich noch einen kleinen Triumph auskosten. Vor mehr als zwanzig Jahren habe ich an einem Archäologen- und Kunsthistorikertreffen im Südtirol teilgenommen. Damals äusserte ich mich inoffiziell auch zu den "irischen" Fresken in der kleinen Friedhofskirche von Naturns. Ich hatte mich intensiv mit diesen ungemein expressiven und schwungvoll gezeichneten Bildern beschäftigt und fand, dass sie mich an frühmittelalterliche Wandbilder und Buchmalereien in Spanien erinnern und dass sie im 10. oder 11. Jahrhundert geschaffen sein könnten. Mit dieser Einschätzung war ich nicht ganz allein. Aber dass hier die Luzius-Legende dargestellt sein könnte, wollte mir niemand glauben. Der heilige Luzius ist der Bistumspatron von Chur, und seine Vita ist etwa um 800 in rätischer Minuskelschrift aufgeschrieben worden. Der Verfasser dieser als Predigt gestalteten Geschichte war vielleicht Remedius, der damalige Bischof von Chur, der meines Erachtens auch für den Freskenschmuck von St.Benedikt in Mals und von St.Johann in Müstair verantwortlich war. Die Wandmalereien von Naturns zeigen, wie ich glaube, Passagen aus diesem Text. Stilistisch haben sie natürlich nichts mit der Karolingerzeit zu tun, obwohl sie bisher zeitlich in die Nähe von Müstair platziert wurden. Und nun kommt mein Triumph: neueste Untersuchungen haben ergeben, dass der Bau, der einen älteren Saal ersetzt, ins 10./11. Jh. datiert werden muss. Damit entfällt die Frühdatierung der Fresken! Den Luzius wird mir allerdings niemand abnehmen, sind doch Hotels und Sportzentrum und Andenkenläden in Naturns ein für alle Mal nach St.Prokulus benannt...

2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Es handelt sich um einen sympathisch geschriebenen Text, mich wundert allerdings, dass Sie es sich nach 80 Jahren Forschungstätigkeit erlauben eine neue und relativ genaue Datierung vor zu schlagen. Die Theorie des Neubaus ist sehr umstritten und wissenschaftlich wenig erforscht. Es wäre wünschenswert, wenn nicht einem "Trumpf" zuliebe, leichtfertige Aussagen getroffen werden.

Marese hat gesagt…

Lieber Kommentator, ich freue mich über jede Reaktion! Was meinen Sie mit der leichtfertigen Aussage zu Naturns? Ich habe keine Datierung vorgeschlagen, sondern lediglich die Frage nach der ikonographischen Deutung gestellt. Das heisst: wenn die Luzius Legende dargestellt wäre, so müsste die Malerei nach 800 datiert werden. Wir hätten dann eine Fortsetzung des Tassilo-Stiles vor Augen. Es wäre aber auch das 10.Jh. und "spanischer" Einfluss möglich, wenn die Annahme eines Neubaus bewiesen werden könnte. Schreiben Sie mir doch direkt; meine Adresse ist leicht zu ermitteln und ich wäre auch für E-Mail-Austausch zu haben. Uebrigens: meine Forschungstätigkeit erstreckt sich nicht über 80 Jahre: Ich bin noch nicht ganz 100!