Donnerstag, September 28, 2006

Müstair, St.Johann: Die Anordnung der Bilder an den Seitenwänden


Nordwand, ganz (Postkarte, Foto Hans Steiner, St.Moritz)

Vom Davidszyklus im obersten Register habe ich schon gesprochen. Bevor ich nun einige Szenen des Christuszyklus beschreibe, sind ein paar Worte über das Dekorationssystem der Müstairer Saalkirche fällig. Natürlich muss man sich beim Betrachten dieser Aufnahme die gotischen Einbauten wegdenken um die Bilder in ihrer einstigen Anordnung zu sehen und zu merken, wie überschaubar der Raum einst war.
Auffallend ist die in eine üppige Rahmung gefasste Rastereinteilung der beiden Längswände, die über einem hohen gemalten, von einem perspektivischen Mäander bekrönten „Marmorsockel“ für fünf Reihen von rechteckigen Bildfeldern Platz bot. Sie lässt zunächst keine „Leseordnung“ erkennen, sondern erweckt mit ihren gerahmten, zentriert komponierten Bildern den Eindruck einer vergleichenden Lehrtafel in einem Buch. Man darf wohl annehmen, dass diese Wandeinteilung üblicherweise zur schlichten arkadenlosen Bauform gehörte und dass sie, wenn auch nicht so aufwändig, von Anfang an miteingeplant war. Denn der von Gerüsten aus einfach zu bewerkstelligende Schnurschlag im frischen Verputz an den Bruchsteinmauern ermöglichte eine einfache klare Unterteilung der grossen Flächen (wagrecht, diagonal und als Zirkelschlag für Rundglorien und Nimben an zentraler Stelle). So war also wohl die Gliederung aller vier Wände schon durch den Bau vorgegeben: als Rastermuster für die Längswände, in welchem Fenster und Türen an beliebiger Stelle einfach ausgeschnitten werden konnten, als triptychonartiger Bühnenprospekt mit wagrecht verlaufendem oberstem Bilderfries an der Stirnwand und gedanklich zusammengehörenden Einzelprogrammen in den drei Apsisrundungen und schliesslich als ein einziges monumentales einheitliches Bildfeld an der Westwand. Die Rastereinteilung bewirkt gegenüber einer friesartig erzählenden Darstellung einerseits eine Vereinzelung der Bilder und damit eine vertiefte Art der Betrachtung und ermöglicht andererseits vielfache gedankliche Beziehungen wagrecht, senkrecht und quer durch den Raum. Einfache Leisten oder schlichte Ornamentstreifen hätten zur Trennung der Szenen allerdings genügt. Nun fällt aber die antikisch inspirierte und konsequent durchgeführte gemeinsame Rahmung aller Bilder auf, die an eine vorgetäuschte Täferung denken lässt.
Die Wahl des durchgehend verwendeten spätantiken Blattstab-Ornaments durch die Redaktoren des Bildprogrammes wurde wohl durch eine offenbar von Anfang an zur Verfügung stehende kostbare Handschrift veranlasst, die als Vorlage für den Davidszyklus des obersten Registers dienen sollte und die sich auch auf den Stil aller andern Bildfelder auswirkte, die sonst eher narrativer, mittelalterlicher und unruhiger, jedenfalls weniger durchkomponiert ausgefallen wären. Aus diesem fürstlichen mit ganzseitigen Illustrationen auf einander gegenüberliegenden Seiten ausgestatteten, spätantiken Bilderbuch stammt übrigens auch die weiter unten zu besprechende Anregung zur nur gedanklich nachvollziehbaren Zusammenstellung zweier Szenen zu Bildpaaren.
Ob auch die weitere formale Ausgestaltung des Rastersystems als ein festes „emailleverziertes“ Rahmengerüst hier ihren Ursprung hat, oder ob die Idee einer scheinbar selbständigen vor die Mauern gestellten Wandverkleidung aus der gehobenen Sphäre der fürstlich langobardischen Kunst (Palastkapellen?) stammt, oder aus dem Bereich des fränkisch-merowingischen Metallhandwerks (Altarantependien oder Reliquienkästen) bleibe dahingestellt.
Jedenfalls wird es trotz der heutigen ganz anderen Raumwirkung bei genauem Hinschauen und mit Hilfe alter Fotos und Aquarellkopien klar, dass jede der vier Wände des Saales über eine eigene Rahmung verfügt, welche die dort angebrachten als Reliefkästchen aufgefassten Szenen paliotto-artig zu einer Bilderwand zusammenfasst. Diese bietet nicht nur eine fortlaufende Erzählung, sondern ist auch eine Tabelle, die mit Hilfe der eusebianischen Kanontafeln (Wikipedia gibt Auskunft)ein freies Gedankenspiel zwischen den Parallelstellen der Evangelien zulässt.

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