Dienstag, September 19, 2006

Klosterkirche Müstair: Das Bildprogramm der Mittelapsis



Mittelapsis: 1.Ankunft des Herrn in der Welt(Christus Angelus kommt zur Inkarnation)(Foto Bea Ess, Luzern)

Betritt man heute die Klosterkirche durch die südliche Eingangstür, geht bis zum Mittelgang und wendet sich dann nach rechts so fällt der Blick zuerst auf das Bild in der Halbkuppel der Mittelapsis, wo eine sehr grosse, aufrechtstehende oder schreitende Christusgestalt mit wehenden Mantelenden in einer doppelten ovalen Gloriole auf einen zuzukommen scheint.
Damit ist die Hauptaussage der gesamten Ausmalung schon gefunden: Gott selber, oder sein „Wort“, der ewige Logos, kommt zur Inkarnation in die irdische Welt. Denn die Kirche ist dem Salvator Mundi geweiht, dem Heiland, dessen Erlösungswerk schon mit der Menschwerdung begonnen hat. (Dies ist die Überzeugung des gelehrten Ambrosius Autpertus, auf den wohl das ganze Bildprogramm letztlich zurück geht.)
Wenn man näher kommt, so sieht man, dass der Erlöser von einer grossen Engelsschar mit mit farbigen Nimben begleitet wird und dass hinter seiner Mandorla die vier Wesen hervorkommen, die man meist als Evangelistensymbole bezeichnet, die aber hier nicht die Embleme von Matthäus, Markus, Lukas und Johannes sind, sondern sich - gemäss ihrem ursprünglichen Sinn - auf Jesus selber beziehen. Sie weisen auf seine vier Wesensmerkmale: Mensch, Messiaskönig, Hoher Priester, und Gott. Christus hat die rechte Hand locker um das lange königliche Szepter gelegt und in der linken trägt er ein aufgeschlagenes Buch. Sein von langem Haar umflossenes bärtiges Gesicht wirkt ernst und streng, aber eine gleich nach der Freilegung der Fresken aufgenommene Foto beweist, dass hier ursprünglich ein jugendlich bartloses Antlitz zu sehen war. (So pflegte man in der Ostkirche den zeitlosen Logos darzustellen und so ist er auch in der frühesten karolingischen Hofschulhandschrift, im Godescalc-Evangelistar, im Paradiesgarten thronend gemalt.) Die Textstellen die diesem Bild zugrunde liegen finden sich in der Liturgie der Weihnachtsmessen: Jesaias 9, 1- 6 und Johannes 1, 1- 18. Die Worte aus Jesaias kennen wir aus Händels Messias: Ein Kind ist uns geboren, ein Sohn ist uns geschenkt. Die Herrschaft ruht auf seiner Schulter. Man gibt ihm die Namen Bote des grossen Rates, starker Gott, Ewigvater, Friedensfürst. Und auch der Johannesprolog ist allbekannt: Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott... und liest man weiter so ist von Johannes dem Täufer die Rede, vom Vorläufer(Herold)und Wegbereiter des Messias/Christus. Damit sind wir auch schon bei den Bildern unterhalb der Apsiskalotte, wo Ankündigung und Geburt Johannes des Täufers gemalt sind, seine wunderbare Rettung beim bethlehemitischen Kindermord (kleines Fragment), seine spätere Gefangennahme und sein Tod anlässlich des Gastmahls des Herodes. Diese letzte Darstellung ist heute von der schönen romanischen Malerei überdeckt, die das Thema der karolingischen Bilder der untersten Reihe der Mittelapsis wieder aufgenommen und neu gestaltet hat.
Kurzgefasst heisst also die Bezeichnung der Mittelapsiskalotte, Nr.88: Die erste Ankunft des Herrn (zur Menschwerdung).
Die zweite Ankunft (zum Endgericht,Parusie genannt) findet sich gegenüber an der Westwand im obersten Bildstreifen des Weltgerichtsbildes.
Die Bezeichnung der Bildfolge im Apsisrund, der Exedra, Nr 89-101, heisst: Verkündigung, Geburt, Zeugnis und Tod Johannes,des Täufers.
Johannes Baptista war einer der Schutzpatrone des Langobardenreiches und ist nun der Schutzpatron des königlich-karolingischen Klosters. Er hat zwei Gedenktage im Kirchenjahr: Geburt, am 24. Juni und Enthauptung, am 29. August.

Hier muss ich noch eine Erläuterung beifügen. Die Spätantike und das frühe Mittelalter lieben die Gedankenverbindungen zwischen zusammengehörigen Darstellungen, aber auch die Doppeldeutigkeit der Bilder. Steht das Himmelfahrtsbild oben an der Stirnwand über den drei Apsisprogrammen als Hinweis auf den Anfang der Institution Kirche, so ist in der Mittelapsis von der zu erwartenden, sich über den Erdkreis ausbreitenden Weltkirche (Ökumene) die Rede. Man kann sich aber auch an die Zusage Jesu vor seiner Himmelfahrt erinnern: Siehe ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt! Dann ist der ewig jugendliche Christus des Apsisbildes auch als der Emmanuel zu verstehen, der Gott- mit- uns, dessen schützende und stärkende Gegenwart in der jeweiligen Jetztzeit der Ecclesia zu spüren ist.
Dies alles klingt wie eine Predigt, was es auch tatsächlich ist, aber nicht von mir ausgedacht, sondern im Programmentwurf gewollt und als Aussage in den Bildern wirksam.

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