Die hebräische Bibel sagt, dass Jahwe, der unsichtbare Gott, in dem von ihm ausgehenden, unzugänglichen Licht wohnt: im Glanz (kabod)! In der griechischen Uebersetzung wird das hebräische Wort "kabod" mit Ruhm, Ehre, Lichtglanz (doxa) wiedergegeben; lateinisch liest man gloria (Ehre, Ruhm, Lichtglanz). Und in der deutschen Annäherung heisst das dann zuweilen: die himmlische Herrlichkeit! Gibt es eine Möglichkeit diesen Nicht-Ort, diesen Glanz, diese Ausstrahlung symbolisch darzustellen? Ich behaupte: ja.
Als ich vor vielen Jahren an einem Buch über den sogenannten "Liber Viventium von Pfäfers" beteiligt war und den künstlerischen Schmuck dieser frühmittelalterlichen Handschrift beschreiben und analysieren sollte, ist mir im wahrsten Sinn des Wortes ein Licht aufgegangen. Das Buch an dem diverse Autoren mitarbeiteten ist nie erschienen. Der Ersatz, der in erstaunlichem Alleingang von einem einzelnen Kunsthistoriker geleistet wurde und der nun das Faksimile des Pfäferser Memorialbuches als Kommentarband begleitet, datiert den Codex zu spät, verneint eine Entstehung in mehreren Phasen und geht auf die ursprüngliche Bedeutung der vier ganzseitigen „Evangelisten-Bilder“ kaum ein. Der Aspekt des Vierpasses als Symbolform wird nicht erwähnt (Anton von Euw: Liber Viventium Fabariensis, Frankeverlag, Bern/Stuttgart 1988).
Dass der Vierpass mehr als eine Schmuckform ist und nicht nur die Einheit der vier Evangelien andeutet, sondern ursprünglich wirklich den Gottesglanz, die himmlische Herrlichkeit symbolisiert, kann ich hier nicht ausführlich begründen. Ich verweise lediglich auf die vierpassförmigen Rhipidien ( Hoheitszeichen, die in der georgisch-orthodoxen Liturgie die Anwesenheit der von Engelwesen begleiteten, unsichtbaren Gottheit darstellen) und sodann auf die zahlreichen Vierpässe, die auch im Abendland etwa seit dem 12.Jh. die Heiligen umschliessen, die nach ihrem Tod in den Himmel eingegangen und somit bei Gott sind.

In Vertretung des reichen Buchschmuckes des im letzten Viertel des 8.Jh als bischöfliches liturgisches Gedenkbuch begonnenen"Liber Viventium" (Buch der lebenden und verstorbenen Freunde und Wohltäter, die in der Messliturgie namentlich erwähnt werden sollen) bilde ich hier die Titelseite zum Markus -Evangelium ab (p.52 des Faksimile-Bandes). Man blickt in einen orientalischen Paradiesgarten: Unter einem hufeisenförmigen flächigen Bogen schwebt ein Vierpass mit einem geflügelten Löwen über einem Pflanzen-und Vogelmotiv. Nun muss man wissen, dass die sogenannten Evangelistensymbole ursprünglich Bildgestalten Christi und seiner im jeweiligen Evangelium hervorgehobenen Eigenschaften waren: seine Menschlichkeit, seine königliche Machtfülle, sein Priestertum und seine göttliche Natur! Trotz der Beischrift Evangelista oder Apostolus ist also im dargestellten Wesen Jesus Christus selber gemeint und der ihn rahmende Vierpass zeigt ihn in seiner Einheit mit dem Vater in der göttlichen Herrlichkeit. Die Vierpassform war im jüdischen Umfeld einst wohl ein Ideogramm, eine abgekürzte und vereinfachte graphische Darstellung des in der Ezechielvision geschilderten vierrädrigen Thronwagens Gottes.


Das mit einem Kurz-Evangeliar, mit 4 Titelbildern und mit 4 Eingangstoren aus feinstem Flechtwerk versehene und von zahlreichen Bogenrahmen für Namenslisten begleitete Memorialbuch war ursprünglich rein zeichnerisch gestaltet. Es gehörte, wie ich meine, einst dem Bischof Remedius von Chur, dessen vor 785 zu datierendes Sakramentar einen ähnlichen Schriftcharakter und ähnliche Schmuckelemente aufweist. Erst nach dessen Tod im Jahr 820 gelangte es in den Besitz der Abtei Pfäfers, wo es auseinandergenommen, neu zusammengesetzt, farbig ausgemalt und schliesslich zum klösterlichen Traditionscodex umfunktioniert wurde. Vermutlich wurden damals einige ältere Lagen mit Namenseinträgen entfernt und durch rasch gezeichnete Bögen ersetzt. Die vier zu den Titelbildern passenden feingearbeiteten, einst leeren Doppelarkaden mit kunstvollem Flechtwerk wurden erst im mittleren und späten 9.Jh. mit Namenslisten gefüllt.
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