Dienstag, Dezember 12, 2006

Der zwölfjährige Jesusknabe im Tempel


Müstair Nordwand, zweitoberstes Register, Bildfeld Nr.35

Obwohl das Bild schlecht erhalten ist, kann ich mit Sicherheit sagen, dass hier die Auffindung des Jesusknaben bei den Schriftgelehrten im Tempel dargestellt ist(Lukas 2,39-52). Man sieht die Unterkörper von drei auf einer Bank sitzenden Gestalten. Zwei sind in Gewänder mit farbigem Saum gekleidet, der dritte in rötlichem Gewand und etwas dunklerem Mantel hält eine Schriftrolle in der linken Hand und ist barfuss (oder trägt Sandalen). Dieser muss der Jesusknabe sein, der in der Tempelvorhalle mit den Lehrern diskutiert. Ganz rechts im Bild steht eine Frau in langem Kleid, das nur die beschuhten Fussspitzen frei lässt. Es ist Maria, die auf ihre vorwurfsvollen Worte: Warum hast du uns dies angetan? Dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht, die irritierende Antwort erhält: Wusstet ihr nicht, dass ich im Haus meines (himmlischen!) Vaters sein muss? Die wesentliche Aussage der Szene ist hier also nicht die Klugheit und Redegewandtheit des Knaben, sondern das erwachende Bewusstsein um seinen Auftrag. Es heisst zwar, dass er mit seinen Eltern heimkehrte und ihnen untertan war, aber einige Jahre später wird er sich von seiner Familie distanzieren und sagen: wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder? so berichten es übereinstimmend die synoptischen Evangelien. Wiedereinmal zeigt es sich, dass fast jedes Bild im Zyklus über sich selber hinausweist und zum weiterlesen und nachdenken auffordert.

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