Samstag, Dezember 09, 2006

Die Flucht nach Aegypten und das Rahel-Grab

Müstair Nordwand Bild Nr.32: Die Flucht nach Aegypten. Foto U.P.S. San Francisco, 2006

Nr.31 und Nr.32 sind durch das karolingische Fenster zwischen beiden Szenen eher verbunden als getrennt. Das Bild der Flucht nach Aegypten hat kein betontes Zentrum, sondern ist in 2 Hälften geteilt: links bilden Maria mit dem Kind auf einem Maultier und ein junger Mann mit einem Sack über der Schulter eine kompakte Gruppe, die von einem Bogen im Hintergrund gerahmt wird. Rechts schreitet Joseph, der das Reittier am Zügel führt, auf einen kleinen Kuppelbau zu, der, im Vordergrund auf der schmalen Bühne stehend, eine wichtige Rolle zu spielen hat, also nicht Beiwerk ist, sondern Protagonist. Es handelt sich um eine offene Aedicula über dem gewachsenen Erdboden, die nicht zur Hintergrundkulisse gehört, die die Stadt Betlehem andeutet, sondern eindeutig einen besonderen Ort bezeichnet. Ich halte dafür, dass es sich um das "Rahelgrab" handelt, das nach alter Ueberlieferung ausserhalb der Stadt als Gedenkstätte verehrt und immer wieder neu aufgebaut wurde. Auf einer Reise durch Jordanien und Syrien habe ich mehrfach solche offene kleine Kuppeln gesehen, die von unserem Reiseführer als "Heiligengrab" bezeichnet wurden. Die heilige Familie wird den Ort nicht betreten, aber er ist ihr Anlass zum Gespräch. Das etwa zweijährige Jesuskind ( der Maler hat den Text genau gelesen!) beugt sich auf dem Schoss der Mutter vor und zeigt mit dem Finger fragend auf das kleine Gebäude am Strassenrand. Joseph gibt mit seiner grossen im Sprechgestus erhobenen Hand die Antwort, die im Evangelientext steht und die den Propheten Jeremias zitiert: Eine Stimme hört man in Rama, viel Weinen und Wehklagen: Rachel weint um ihre Kinder und will sich nicht trösten lassen, weil sie nicht mehr sind. Gemäss einem Kommentar in der Jerusalemer Bibel ist dies als ein prophetischer Hinweis auf den betlehemitischen Kindermord zu verstehen. Tatsächlich schildern die beiden nächsten Bildfelder in Müstair ( Nr.33 und 34) in drastischer Darstellung sowohl das Gemetzel als den König Herodes, der den Befehl dazu erteilt. Die hier nachzulesende relativ kurze Perikope, die Anlass zu vier aufeinanderfolgenden Szenen gab, ist Matthäus 2, 13 -18.

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