
Müstair Mittelapsis: Ankunft des "Wortes" zur Menschwerdung
(Christuskopf vom Restaurator verändert)
Da heute am 25. Dezember - und schon Wochen vorher - vom Kind in der Krippe die Rede war, von Ochs und Esel, von Hirten und Engeln und vom Stern von Betlehem, möchte ich nochmals auf die Darstellung in der Mittelapsis von Müstair zu sprechen kommen, die bisher nicht als Weihnachtsbild erkannt worden ist. Da das Antlitz Jesu nach der Freilegung der Fresken falsch renoviert worden ist, scheint heute ein strenger, bärtiger Allherrscher mit den himmlischen Heerscharen zum Gericht zu kommen. Ursprünglich trat aber eine bartlos jugendliche Gestalt mit Friedensszepter aus der doppelten Mandorla hervor und die begleitenden Engel mit bunt leuchtenden Nimben tragen keine Speere. Gemeint ist der ewige Gottessohn, der Logos, das Wort, das Licht der Welt, wie er im Johannesprolog, dem Evangelium zur Messe am Weihnachtstag verkündet wird. Ich habe mir eine Fotomontage erlaubt und den Kopf des jugendlichen Christus aus dem frühkarolingischen Godescalc-Evangelistar von 783 ins Apsisbild eingesetzt:

Diese Darstellung des jugendlichen, stehenden Logos zwischen Engeln ist in der Zeit zwischen 780 und 840 keineswegs selten und sie kommt in Oberitalien auch noch im 11.Jh. vor, allerdings meist als Illustration zum 90.Psalm unter der Bezeichnung "Psalmenchristus" oder "Christus Victor", weil der Heiland über Drachen und Löwen, Symbole der dunklen Mächte, schreitet. Diese könnten auch in Müstair einst vorhandengewesen sein, denn die unterste Partie des Bildes ist durch ein später eingebrochenes Rundfenster zerstört! Dass aber mit dem stehenden, bartlosen Christus die Ankunft des göttlichen Logos zur Inkarnation gemeint war, beweist meines Erachtens die häufige Verbindung mit Verkündigung und Heimsuchung! So wurde mit den nebeneinander gestellten Bildern von der göttlichen und der menschlichen Natur Jesu Christi das Weihnachtsgeheimnis anschaulich gemacht. Ich könnte dazu die Buchdeckel des Lorscher Evangeliars aus hochkarolingischer Zeit abbilden, bringe aber lieber das Elfenbeindiptychon von Genoels-Elderen, das etwa gleichzeitig mit den Müstairfresken im Maas-Moselgebiet geschaffen worden ist.
Oben: Ratschluss der Erlösung (Der ewige Logos kommt, von Engeln begleitet, als göttliche Natur Jesu in die Welt)
Unten: Verkündigung an Maria und Begegnung mit Elisabeth (Schwangerschaft als Ankunft der menschlichen Natur Jesu in der Welt)


Schreibtafeln oder Buchdeckel (Brüssel), letztes Drittel des 8.Jh.