
Müstair, innere Westwand: Weltgericht (heutiger Zustand), Foto F.Hidber im GSK-Führer1986, Grundlage: Matthäus 24, 29 - 31 und 25, 31 - 46.

Strichzeichnung der Westwand-Einteilung (Büro Sennhauser)
Man sieht: die Zerstörungen am monumentalen Bild durch den Einbau der Nonnenempore und durch Fenster- und Türausbrüche in gotischer Zeit sind sehr gross. Trotzdem kann man sich die ursprüngliche Wirkung des Freskos mit Hilfe der Umzeichnung gut vorstellen, und wie ich meine lassen sich wichtige Partien sogar einigermassen rekonstruieren. Das grosse rechteckige Bildfeld befindet sich unterhalb der schon besprochenen Bilder Nr.9-12 des Davidszyklus und ist als Ganzes in das selbe breite Rahmenornament gefasst, das unten auf den den ganzen Raum umziehenden Mäander und die Sockelzone aus Marmorimitation trifft. Erstaunlicherweise hatte der Saal keinen eigentlichen Westeingang. Die kleine Tür unten in der Mitte der Wand ist späteren Datums; über ihr befindet sich allerdings ein heute vermauertes karolingisches Rundbogenfenster über das die Archäologen vorläufig noch nachdenken. Ich mache mir dazu meine eigenen, vielleicht inkompetenten Gedanken. Was aber die karolingischen Fenster im oberen Teil angeht, so bin ich überzeugt, dass es einst nicht drei, sondern nur zwei waren, denn dort, wo in der Zeichnung das mittlere angedeutet ist, musste sich der wichtigste Teil des Davidszyklus befunden haben: die vom Propheten Nathan dem König überbrachte göttliche Verheissung vom ewigen Thron für einen Spross aus seinem Geschlecht!
Man ist es gewohnt, das Jüngste Gericht beim Eintreten in eine Kirche aussen an der Fassade, meist in plastischer Ausgestaltung, zu sehen. Nun gibt es jedoch einige abendländische Beispiele von Gerichtsdarstellung an der Innenseite der Westwand. Das könnte bedeuten, dass die entsprechenden Kirchen ursprünglich nicht durch einen Westeingang betreten wurden, sondern auf einem Umweg über einen Vorraum von der Seite her. Das war in Müstair bestimmt der Fall, denn die Mönche (und ihre zeitweiligen Gäste)betraten den Saal im Osten von den seitlichen Anbauten her durch zwei sehr hohe unverschlossene Portale unmittelbar vor den Stufen die zum Altarpodium führten. Um zu ihren Plätzen im ausgesparten Geviert, dem sogenannten Mönchschor, zu gelangen, mussten sie sich gegen Westen wenden. Somit fiel ihr Blick als erstes auf das Weltgerichtsbild an der inneren Westwand, wo gemäss der römischen Leseordnung die Ereignisse geschildert sind mit deren Evokation das Kirchenjahr endete und begann: das Jüngste Gericht, der Tag des Herrn ( Perikopen vom letzten Sonntag nach Pfingsten und vom ersten Adventsonntag = Matthäus 24, 15-35 und Lukas 21, 25-33)! Das Fresko von Müstair folgt allerdings nicht nur diesen Lesungen, sondern bezieht sich auch auf Matth.25,31 -46, denn es geht nicht auf eine Buchillustration zurück, sondern sehr wahrscheinlich auf ein monumentales (römisches?)Wandbild, das auch in Giottos Weltgericht in Padua noch nachklingt.
Das Weltgericht in Müstair ist in drei horizontale Streifen gegliedert, die aber nicht wie später eine Bühne auf drei Ebenen meinen, also Himmel, Erde und Unterwelt, sondern eine zeitliche Abfolge schildern. Im oberen Register kündet sich das Weltende an mit grossen Posaunenengeln, die die Toten zur Auferstehung rufen - sie erheben sich aus ihren Sarkophagen - mit der Ankunft Christi, des Menschensohnes, dem sein Zeichen, ein flammendes Kreuz (zerstört) voraus geht, und mit dem Verschwinden des Himmelszeltes, das samt Sonne, Mond und Sternen von vier Engeln zusammengerollt wird - messbare Zeit wird fortan nicht mehr sein! Im mittleren Register sitzt Christus auf dem Richterthron im Regenbogen- und Engelskreis, wo die beiden vordersten die offenen Schriftrollen mit der Urteilsverkündigung präsentieren. Zu beiden Seiten wenden sich die unter Arkaden thronenden 12 Apostel, die Vertreter der Kirche, einander im Gespräch zu. Sie sind nicht nur Beisitzer, sondern Geschworene und Mitrichter. Das unterste Register ist durch zwei Berge unterteilt, von deren Hängen die auferstandenen und die noch lebenden Menschen der (verlorenen)Mitte zustreben, wo von einer Engelwache flankiert vermutlich das Leidenskreuz mit dem Lamm Gottes im Zentrum zu sehen war. Das siegreiche Kreuz und das Lamm Gottes, beide sind Bildgestalten Jesu Christi, des Herrn der Welt und der Verkörperung der erlösenden Barmherzigkeit. Im Innern der Berge waren wohl einst links das irdische Paradies mit den Patriarchen und mit Mutter Maria zu sehen und rechts der Höllenabgrund. Der obern und mittleren Darstellung liegt Matthäus 24, 29-46 zugrunde, für die untere dürfte eine Kirchenvaterpredigt die Anregung geliefert haben.
Soweit der Überblick. Die Einzelheiten werde ich in den nächsten Tagen besprechen.