
Müstair Nordwand Nr.51: Jesus segnet die Kinder (Markus 10, 2-16)
Es gibt zu diesem Bericht mehrere Parallelstellen, doch da die Szene im Bildfeld Nr.51 sich eindeutig im Innern eines Hauses abspielt, muss der Text von Markus 10, 2-12 zu Grunde liegen. Dort wird Jesus eines Tages in Judäa von Pharisäern gefragt, ob es einem Mann erlaubt sei, seine Frau zu entlassen. Weil Jesus das verneint, kommen die Jünger abends im Haus auf die Sache zurück und Jesus stellt sich abermals gegen die Scheidung, da sie einem Ehebruch gleichkomme. - Im Vers Markus 10, 13 heisst es dann weiter: als man nun Kinder hereinbrachte, damit der Meister sie anrühre, wollten die Jünger sie, weil es schon Abend war, wegschicken. Da wird Jesus wütend und sagt: Lasset die Kinder zu mir kommen, denn solchen gehört das Reich Gottes! Dann schliesst er sie in die Arme und segnet sie. Im Bild von Müstair sitzt Jesus nach rechts gewendet auf einer kissenbelegten Truhe in einem Raum, der in der Art spätantik-römischer Malerei perspektivisch gestaltet ist, so dass man eine Zimmerecke samt der Kassettendecke und den Fenster- und Türleibungen von unten sieht. Links hinter ihm ist noch der Kopf eines Apostels erhalten; der Rest der Gruppe ist zerstört. Genau im Zentrum des Bildes quillt eine Kinderschar zur Tür herein, von der heute nur noch die vordersten vier Kleinen zu sehen sind, die vor dem Heiland am Boden kauern. Rechts aussen stehen dicht gedrängt ihre Väter oder Brüder, die sie zum Wunderheiler Jesus bringen wollten (der Restaurator hat ihnen, die die jüdische Männertracht mit dem weissen Halstuch tragen, in der Meinung es müssten die Mütter sein, die Bärte wegretouchiert und Frauengesichter gemalt). Man beachte die gekonnt gezeichneten Hände und Füsse und die harmonischen Körperbewegungen, sowie die Untersicht in die Gewandsäume! Von beiden Seiten wird so der Blick im Bild auf die Kinder gelenkt, um deutlich zu machen, dass sie es sind, die im Zentrum des hier nachzulesenden Evangelientextes stehen! (Wir wissen ja unterdessen, dass jedes Bild sozusagen einen Hyperlink zu den Perikopen bietet!) Rechts oben hinter den Männern ist in einer Wandnische eine kleine laufende Figur zu sehen, die eine Schale (Oellampe?)vor sich her trägt. So wird angedeutet, dass es Abend ist. (Man könnte die Nische aber auch für ein Hausheiligtum, ein Lararium, halten und die tanzende Statuette für einen "Lar familiaris" einen antiken Schutzgott der Kinder.) Was ist nun aber die wesentliche Aussage dieser Szene? Weshalb werden die Kinder den Jüngern als Vorbild genannt? Kommen sie wegen ihrer Unschuld ins Himmelreich? Oder wegen ihrer Kleinheit und Machtlosigkeit? Oder weil sie Werdende, Wandlungsfähige, sich Weiterentwickelnde, Lernfähige sind? Ich plädiere für die Machtlosigkeit. Aber das ist vielleicht zu modern gedacht und die Zusammenstellung mit der nächsten Szene zum beabsichtigten Bildpaar, legt es nahe, dass der frühmittelalterliche Entwerfer des Bildprogramms die Schuldunfähigkeit der Kinder, der schuldiggewordenen Ehebrecherin gegenüberstellen wollte.
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