
Müstair Südapsis: ein von einem Lichtschein umflossenes Medaillonkreuz, in der schriftlich überlieferten Weiheinschrift als Victoriosissima Crux bezeichnet, wird von den vier apokalyptischen Wesen verehrt. Es stellt den verherrlichten Christus dar und die mit ihm verbundenen Himmelsbewohner.
Heute ist Karfreitag. Für die einen ein hohes Fest: die Feier der Erlösung. Für die andern ein Tag der Trauer und der Busse: die Erinnerung an einen grausamen und erniedrigenden Tod. Ich habe schon immer einen starken Widerstand empfunden gegenüber der katholischen Karftreitagsliturgie, wo das Kreuz mit dem gemarterten Leichnam enthüllt und verehrt wird. An diesem Tag werden vielerorts auch blutrünstige Passionsspiele veranstaltet oder entsprechende Filme gezeigt. Die frühen Christen hatten an diesem Tag aber auch schon Ostern im Blick. Tod und Hadesfahrt und Auferstehung gehörten zusammen als das grosse Mysteriendrama der Erlösung. Darum ist heute das für uns moderne Menschen so rätselhafte Bild der Südapsis von Müstair nochmals zu sehen, das mit der "himmlischen Liturgie" (dieser Ausdruck ist im ostkirchlichen Bereich für eine andere Darstellung reserviert) zeigen will, wie im Himmelreich im Gedenken an Tod, Auferstehung und Verherrlichung Jesu ein immerwährendes Osterfest gefeiert wird.
Schon seit den ersten christlichen Jahrhunderten und das ganze Mittelalter hindurch wusste aber jeder einfache Christ: ein silbernes oder goldenes, mit Perlen und Edelsteinen besetztes Kreuz ist die Symbolgestalt des auferstandenen und verherrlichten, des verwandelten Jesus, den man anders gar nicht darstellen kann: Goldschmiedearbeit aus Köln, 11.Jh.

Offensichtlich gab es bald die Vorstellung, dass Jesu Leib nach dem Tod am Kreuz im Grab ruhte, während seine menschlich-göttliche Geistseele in die Unterwelt hinabstieg um die gerechten Gottgläubigen aus der Gefangenschaft des Todes zu befreien. Dann erst, am dritten Tag, folgte die leibliche Auferstehung und sogleich auch die Verwandlung und Verherrlichung oder "Himmelfahrt". So hat es der Zeichner im gestern gezeigten, karolingischen Utrechtpsalter dargestellt. Eine sehr frühe Schrift, das bruchstückhaft erhaltene apokryphe Petrus-Evangelium, versucht mit folgenden Sätzen den Hörern beizubringen, dass der Auferstandene entweder in menschlicher Gestalt erscheinen kann oder in der Symbolgestalt eines kostbaren Kreuzes: Am Ostermorgen erscholl eine laute Stimme vom Himmel. Dann sahen die Grabwächter, wie zwei grosse lichtglänzende Männer (Engel) vom Himmel herab kamen und ins Grab hineingingen, nachdem der Verschlussstein von selber zur Seite gerollt war. Als sie wieder herauskamen stützten sie einen riesengrossen Dritten (Jesus Christus), den sie zwischen sich führten und ihnen folgte ein Kreuz! Und eine Stimme rief wieder vom Himmel: Hast du den Entschlafenen gepredigt? Und vom Kreuz her (!) kam die Antwort: Ja!