Dienstag, Februar 20, 2007

Die Kreuzigung



Müstair Nordwand Nr65/66 Kreuzigung (schlecht erhalten), darunter meine Nachzeichnung

Das sich über den jetzt vermauerten Eingangsbogen der Nordwand erstreckende, vielfigurige Bild ist zwar arg zerstört und für den Laien kaum mehr lesbar, aber mit Hilfe meiner Rekonstruktionszeichnung, die das Erhaltene in kräftigem Strich wiedergibt und das Ergänzte in feiner Zeichnung, sollte die folgende Beschreibung die Szene vor dem innern Auge erstehen lassen:
Das grosse Kreuz steht ganz vorn und beherrscht den Bildraum, der hinten durch einen Gebirgszug abgeschlossen ist, der entweder die reale Landschaft darstellt oder symbolisch das alte und das neue Testament (Berg Sinai und Berg Tabor) meint. Christus ist bis auf einen schräg verlaufenden Lendenschurz nackt. Sein Haupt ist zur rechten Schulter geneigt, er ist also tot. Zu beiden Seiten des Kreuzstammes sind zwei stark bewegte Gestalten zu sehen; links in Ausfallstellung und in kniekurzem Gewand Longinus, der mit seinem Speer Jesu Seite durchbohrt und rechts, als Rückenfigur, Stephaton in langem dunklem Kleidd, der dem dürstenden Jesus auf einem Stab den Essigschwamm hinaufstreckt. Links aussen im Bildfeld ahnt man noch die grosse Gestalt der trauernden Mutter, hinter der das kleinere Kreuz des reuigen Räubers zu sehen war. Vom Jünger Johannes ist rechts ein Stück der weissen Tunika und ein Stück des dunklen Mantels erhalten; rechts hinter ihm sieht man den zweiten Räuber, dessen Arme mit Stricken nach hinten über sein Kreuz gezogen sind. Ganz rechts aussen über der Bogenöffnung zum nördlichen Seitenraum ist die Gruppe der zuschauenden Soldaten mit ihrem Hauptmann relativ gut erhalten. Zu dieser dramatisch erzählenden und zugleich symbolgeladenen Darstellung ist keine spezielle Evangelienstelle zu nennen, vielmehr muss man bei allen vier Evangelisten nachlesen. (Die Passionsberichte stehen in den liturgischen Büchern beim Palmsonntag). Das Vielfigurige Kreuzigungsbild ist wohl indirekt auf ein berühmtes altes Mosaik zurückzuführen. Ich gebe hier zum Vergleich den Link zu einer Buchmalerei aus dem syrischen Rabulas-Evangeliar
das heisst aber nicht, dass es in Müstair als Vorbild gedient hat. Näher verwandt ist eine Darstellung auf einem mailändisch-ottonischen Elfenbeinbecher des 10.Jh., der auch für das nächste Bildfeld herangezogen werden muss:

Er befindet sich heute in London im Victoria u. Albert Museum. Da seine Passionsdarstellungen diejenigen einer karolingischen Elfenbeintafel im Dom von Mailand wiederholen, die ihrerseits auf ein spätantikes Werk des 5. Jh. zurückgehen, ist ein Vergleich mit Müstair gerechtfertigt. Das wird bei der Besprechung des folgenden Bildfeldes Nr.67 deutlich zu zeigen sein.

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