Donnerstag, Februar 22, 2007
Die Hadesfahrt Christi, oder: Jesu Abstieg zu den Toten (Descensus ad inferos)
Müstair Nordwand, Nr. 67: Jesu Abstieg zu den Toten, Foto U.P.S. San Francisco
Der Mythos von Christi Abstieg ins Totenreich, vom Kampf mit den Mächten der Finsternis und von der Befreiung der Toten (1. Petrus 3, 18 -22 und 4, 6 und die dramatische Descensus-Schilderung innerhalb des apokryphen Nikodemus-Evangeliums (2, 18-24) findet sich nicht in den kanonischen Evangelien. Gleichwohl ist er schon sehr früh im zentralen Teil der Messfeier enthalten (Anaphora des Bischofs Hippolyth von Rom) und wurde wohl auch als kultisches Spiel in die Taufvorbereitung der Osternacht integriert. Der heilige Augustinus hat darüber gepredigt und zahlreich sind die dichterischen Texte zur "Höllenfahrt Jesu" im frühen und hohen Mittelalter. Das Bild Nr.67 ist also nicht aus einem spätantiken Perikopenbuch übernommen, sondern aus einer Wandmalerei oder einem Relief. Später findet es sich zur Illustration der österlichen Taufliturgie in den Ritual- und Sakramentarbüchern. Den Taufanwärtern wird die Erlösung der alttestamentlichen Gerechten aus der Unterwelt vor Augen geführt und der Sieg Christi über den Tod und den Teufel. Was hier dargestellt ist, will einen Satz aus dem Apostolischen Glaubensbekenntnis anschaulich machen: ... gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben, hinabgestiegen in das Reich des Todes, am dritten Tage auferstanden von den Toten ... Dieser Satz ist der Versuch eine Antwort zu finden auf die Frage: Was bedeutet Erlösung? Was geschah zwischen Karfreitag und Ostern? Wo war der tote Jesus? Grabesruhe? Oder dramatisches inneres Geschehen? Ich habe soeben Patrick Roths erstaunliches Buch "Corpus Christi" gelesen. Der Autor geht dieser Frage nach - dabei tauchen andere Bilder auf - zeitgemässe - nicht weniger dramatisch als das mythische Bild von der "Hadesfahrt", aber unmittelbarer packende, sozusagen persönlich erlebbare...
Von einer grossen, schräggestellten Mandorla (einem hellen Lichtschein) umgeben steht Christus etwas nach vorn gebeugt in der linken Bildhälfte und greift mit der rechten Hand nach dem Arm eines aus dem Boden auftauchenden, weisshaarigen, nackten Mannes; hinter diesem ist ein weiteres Gesicht zu sehen. Es sind Adam und Eva, die Ureltern der Menschheit, die durch Christi Tod und Auferweckung, der Unterwelt, dem Tod entrissen werden und die so die Auferstehungshoffnung für alle erlebbar machen. Neben der Mandorla tauchen zwei nimbierte Gestalten auf; die vordere könnte Johannes der Täufer sein, der seit kurzem ebenfalls im Totenreich anwesend, den andern Gefangenen ihre befreiung angekündigt hat. Rechts aussen fesselt ein kraftvoller Engel den Satan, den man sich in der Ecke unten denken muss. Er und weitere im Text genannte Figuren sind heute nicht mehr zu sehen, doch lässt ein reich geschnitzter Elfenbeinbecher aus dem 10. Jh. diese Vermutung zur Gewissheit werden:
hier sieht man genau, was im Müstairer Bild nicht mehr deutlich zu erkennen ist: die Fesselung des Teufels durch einen grossen Engel! Ich habe diese Elfenbeinarbeit, ein ottonisches Weihwassergefäss, schon in meiner 1958 abgeschlossenen Dissertation herangezogen. Diese Szenenfolge ist eng mit den Passionsbildern von Müstair verwandt. Ich habe den Becher schon im im gestrigen Abschnitt, wo von der Kreuzigungsdarstellung die Rede war, abgebildet.
Zurück zum Bildfeld Nr.67: Das Ganze spielt sich in einer fensterlosen Kammer ab, von der die rechte obere Ecke rechts im Bild zu sehen ist. Dieses Gefängnis, sowie die Nacktheit von Adam und Eva unterscheidet die Szene vom später geschaffenen bekannten byzantinischen Osterbild, der Anastasis, wo Christus als strahlender Sieger empor steigt und die Ureltern mit sich reisst. Hier in Müstair ist wirklich der Descensus dargestellt, der Abstieg in die Unterwelt, Jesu eigenes Erleiden der Todeswirklichkeit. Christus nimmt mit seiner Lichtglorie mehr als die Hälfte des Bildfeldes ein. Eine einzige grosse Bewegung geht von links oben nach rechts unten durch die souverän komponierte Szene. Hier wurde kaum eine ältere Buchmalerei aufgegriffen. Das ist wirkliche, auf Fernsicht hin angelegte Wandmalerei mit grossen Flächen und ruhigen Umrissen. Man meint fast ein klassizistisches Relief vor sich zu haben. Mir scheint, dass der Hauptmeister selber hier am Werk war, so wie wir ihn vom Himmelfahrtsbild oben an der Ostwand kennen. Und wie er nächstens im grossen Weltgerichtsbild an der Westwand zu fassen sein wird. Eine frühmittelalterliche Anregung aus dem 7. Jh. dürfte hier im späten 8.Jh. wieder aufgenommen worden sein. Ob sie in Unteritalien entstanden ist, in Ravenna oder in der Stadt Rom ist vorläufig nicht auszumachen. In St.Angelo in Formis bei Capua ist aus dem 11.Jh. innerhalb eines einer Kirchenausmalung ein Bild zum selben Thema erhalten. Es weist aber andere Züge auf: der Schauplatz des Geschehens ist nicht ein gemauertes Verlies, sondern eine Höhle unter der Erde. In ähnlichen Bildern in den süditalienischen Exultetrollen, im oberitalienischen Warmundussakramentar, oder in der Reichenauer Buchmalerei, lodern gar Flammen aus dem Boden auf: Aus dem Schattenland des Hades, wo alle Toten wohnen, ist jetzt schon die Hölle der Verdammten geworden.
Fresko in S.Angelo in Formis, 11.Jh. (Foto aus der Dissertation von Anita Moppert-Schmidt,Zürich 1967)
Reichenauer Buchmalerei des 11.Jh: Ungewöhnliches Bild zum Osterfest(!) in einem Evangelistar in Hildesheim.
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